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Utopie des Möglichen

YVONNE GIMPEL

 

In meinem Vortrag zum Symposium Freie Szene – Freie Kunst ging es um ein Herzstück der Kulturarbeit, um gerechte Bezahlung. Gerechte Bezahlung wäre eine Art Idealzustand, den wir erreichen wollen, der aber irgendwo in ferner Zukunft liegt und damit eine Utopie formuliert.

Auf der Suche nach „dem“ internationalen Good-Practice-Beispiel musste ich feststellen, dass es sehr wenige ernsthafte politische Initiativen gibt, die sich dieses Themas annehmen. Es gibt einige wenige Beispiele und diese sind meistens punktuell und im lokalen Kontext verankert.

Die Studien, die sich damit beschäftigen, wie es den Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen tatsächlich geht, sei es in Großbritannien, Finnland, Schweden oder Kanada, kommen zu ähnlichen Befunden. Auch die aktuelle Studie zur sozialen Lage der Künstler*innen und Kulturvermittler*innen in Österreich skizziert ein typisches Bild:


  • Die Wenigsten können von ihren Einkünften aus künstlerischer Tätigkeit oder der Kulturarbeit ihren Lebensunterhalt bestreiten.

  • In Konsequenz dazu werden oft mehrere Projekte parallel verfolgt und so garantieren nur mehrere Jobs gleichzeitig ein Auskommen.

  • Hinzu kommt die meist lückenhafte bis fehlende soziale Absicherung im Fall von Krankheit, von Zeiten ohne Projekt oder Engagement, von sogenannter Erwerbslosigkeit oder im Alter.

  • Die Situation von Frauen ist meistens wesentlich prekärer als jene ihrer Kollegen.


Von der Kunst leben zu wollen führt letztlich oft zur Kunst des Überlebens. Dies ist die eine Seite. Auf der anderen Seite steht die Frage nach den Rahmenbedingungen. Jüngste Daten belegen, dass sich in allen westeuropäischen Staaten die Kulturbudgets seit der Finanzkrise 2008 nicht erholt haben. Sie sinken bzw. stagnieren, sinken also de facto im Wert und somit sinkt auch der Gesamtanteil für Kulturausgaben in den öffentlichen Budgets.

Vor diesem Hintergrund haben wir folgendes Dilemma: Hier der Anspruch auf gerechte Bezahlung von Kunst und Kultur, dort die Verschlechterung der Rahmenbedingungen im Bereich Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht.

Wie kommen wir also von der Utopie der gerechten Bezahlung für Kunst und Kultur zum Möglichen? Ein Leitfaden in neun Schritten.


1. Es ist höchst an der Zeit, die Kunst- und Kulturproduktion aus dem Nimbus des romantisierten Bildes eines entrückten Schöpfertums – kreativ im Hungern und Leiden für die Kunst – zu lösen.
Kunst und Kultur ist Arbeit. Davon leben zu wollen ist beinharte Arbeit. Die Motivation mag besonders hoch sein und viele empfinden ihre Tätigkeit auch als gesellschaftlichen Beitrag, aber das ändert nichts daran, dass es Arbeit ist.
Wenn wir nicht die Entprofessionalisierung und Degradierung zum Hobbytum wollen, dann müssen sich Kunst- und Kulturschaffende auch als Arbeiter*innen begreifen, die Arbeit erbringen, die entlohnt werden muss. Erst wenn man sich selbst als Arbeiter*in begreift, kann man glaubhaft Forderungen nach Arbeitsrechten und besseren Arbeitsbedingungen formulieren. Und die brauchen wir.

2. Wenn wir bessere Arbeitsbedingungen fordern, heißt das, dass wir die Bedingungen nicht schlichtweg als gegeben akzeptieren dürfen. Viel zu oft werden sie als der Preis dargestellt, der bezahlt werden muss, um im Kunst- und Kulturbereich tätig sein zu können.
Arbeitsbedingungen sind nicht naturgegeben. Die neoliberale Entwicklung ist keine Naturgewalt. Sie ist historisch gewachsen und damit politisch verhandel- sowie veränderbar. Jene Verhältnisse, die die heutige Prekarität im Kunst- und Kulturbereich prägen, sind der Zerrspiegel einer allgemeinen Entwicklung, die immer weitere Teile der Gesellschaft erfasst bzw. schon längst erfasst hat.
Die Studie zur sozialen Lage zeigt sehr klar auf, dass jede/r dritte Künstler*in in Österreich heute armutsgefährdet ist. Auch die Berücksichtigung sämtlicher Vermögenswerte und Einkommen im Haushalt, wie jene von Partner*innen oder von Transferleistungen ändert nichts an der Zahl der Armutsgefährdeten.


3. Wir brauchen mehr und stärkeren kollektiven Widerstand, indem wir auch neue Allianzen suchen.
Die Lebensumstände von Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen sind der wahr gewordene neoliberale Traum: Künstler*innen sind besser gebildet, flexibel und mobil, agieren international, arbeiten oft über 50 Stunden, leben immer öfter alleinstehend. Die Entgrenzung der Arbeit in das Privatleben hinein ist Standard: Jede Begegnung kann eine Kooperation bedeuten, jeder Social-Media-Beitrag den eigenen Imagewert bestimmen, jede Zeit der sogenannten Erwerbslosigkeit auch der Vorbereitung eines nächsten Projekts, einer nächsten Kooperation, einer nächsten Einreichung dienen. Und dennoch, durch all diese „Selbstoptimierung“ bis hin zur Selbstausbeutung haben sich die Bedingungen nicht verbessert.
Im Bereich der bildenden Kunst gibt es Studien zur Situation der Künstler*innen in Österreich vor 30 Jahren. Der Vergleich zwischen damals und heute zeigt: Trotz dieses „immer mehr“, „immer flexibler“ etc. sind es immer noch dieselben Konfliktlinien, dieselben ökonomischen Probleme, die die Situation prägen und zum Teil sogar verschlechtert haben.
Das heißt, wir brauchen mehr Mut, mehr kollektive Ansätze – auch des Widerstands und des Ungehorsams, nicht nur in neuen Allianzen nach außen, sondern auch in unserer eigenen Lebenspraxis.


4. Wir brauchen verbindliche Mindeststandards für professionelle Kunst- und Kulturarbeit. Das ist eine klare Forderung, die sich durch die meisten internationalen Analysen und Positionen zieht. Mindeststandards gibt es nicht. Es gibt keine Grenzziehung nach unten. Es gibt kein Limit, wie wenig bezahlt werden darf und entsprechend oft ist es auch nichts. Das österreichische Recht kennt keine Mindestlöhne. Die aktuelle Diskussion über Stundenlöhne von Euro 1,50 zeigt das sehr gut. Interessensvertretungen von Kunst- und Kulturarbeiter*innen können nur unverbindliche Empfehlungen und Richtwerte für Gehälter und Gagen abgeben. Und selbst hier befinden sie sich schnell im rechtlichen Graubereich, denn die Veröffentlichung derartiger Empfehlungen könnte als illegale Preisabsprache eingestuft werden, die den freien Markt verzerrt. Als ob freie Kulturschaffende ein Kartell wären, wo durch Preisabsprachen noch höhere Gewinnmargen zu erreichen sind.
Empfehlungen sind aber nicht bindend. Es steht jedem und jeder frei, sich daran zu halten oder nicht. Wir wissen aus der Praxis, dass die Wenigsten die empfohlenen Honorare erhalten bzw. sich diese in ihrer Doppelfunktion als Auftraggeber*in und -nehmer*in selbst auszahlen können. Gerade im Bereich der Kulturinitiativen wird der Großteil der Arbeit ehrenamtlich, also ohne Bezahlung, erbracht.
Freiwilliges Engagement ist gut und wichtig. In Österreich engagieren sich über 400.000 Menschen jedes Jahr ehrenamtlich im Kulturbereich, nur im Sport sind es mehr. In der professionellen Kunst- und Kulturarbeit gilt es aber eine Trennlinie zu ziehen – zwischen freiwilligem Engagement und unfreiwilligem Ehrenamt. Hier grassiert das unsichtbare, das unfreiwillige Ehrenamt, als ein Ergebnis der Rahmenbedingungen.


5. Wie kommen wir von der Utopie der gerechten Bezahlung zur Praxis? Wo kann bzw. muss man ansetzen? Dort, wo die öffentliche Hand fördert, dürfen ihr die Bedingungen, unter denen die Vorhaben realisiert werden, nicht egal sein. Das ist eine Frage der politischen Haltung.
Wenn die öffentliche Hand möchte, dass ein Vorhaben mit ihrer Unterstützung realisiert wird, dann müssen diesem Projekt realistische Budgets zugrunde liegen, die angemessene Entlohnung vorsehen. Genau dafür braucht es Mindeststandards, die in Kooperation zwischen der Szene, ihren Interessensvertretungen, der Politik und Verwaltung gemeinsam entwickelt und kontinuierlich angepasst werden.
In den Kunst- und Kulturberichten schreibt sich die öffentliche Hand gerne auf die Fahne: Das haben wir ermöglicht! Dieses oder jenes Projekt wurde mit unserer Unterstützung realisiert! Unter welchen Bedingungen aber diese Projekte realisiert werden, fragt dabei kaum jemand.


6. Das heißt, wir brauchen Kostenwahrheit in den Förderanträgen. Kulturschaffende sollen nicht Angst haben müssen, die tatsächlichen Kosten zu benennen, weil das die Chancen auf Förderung verringern könnte.
Wenn gekürzt wird, ist meist klar, wo das getan werden kann: nicht bei den Fixkosten für Strom, Heizung oder Räume, für den Druck von Plakaten und Flyern etc., sondern bei den Personalkosten und künstlerischen Leistungen. Dort kann am Einfachsten gespart werden.
Zu oft ergibt sich die Situation – auch das ist ein internationales Thema –, dass Fördergeber*innen weder wissen, auf welcher Basis und für welchen Arbeitsumfang die Gehälter und Gagen berechnet wurden, noch es so genau wissen wollen. Daher sind, als absolut unterste Grenze der Entlohnung von professioneller Kunst- und Kulturarbeit, die erwähnten Mindeststandards unerlässlich, was bedeutet: Wir brauchen Transparenz und Nachvollziehbarkeit in den Förderkriterien, in den Förderentscheidungen und deren Begründungen.
Wir wollen hier das freiwillige Ehrenamt nicht ausschließen. In vielen Bereichen ist es die gewünschte Form regionaler Kulturarbeit. Wenn das geplant ist, dann ist es entsprechend zu benennen, zu begründen und transparent zu machen.


7. Ja, es geht auch um mehr Geld. Und die reflexhafte Antwort darauf ist: „Das ist budgetär nicht machbar.“ Aber von welchen Beträgen reden wir? Welche Beträge sind budgetär nicht machbar? Hier braucht es eine Faktenbasis, um aus dem Spekulativen heraus zu kommen.
Kultur- und sozialpolitische Fragen werden gerne auf budgetpolitische reduziert. Bei gleichen Budgets müsste die Anzahl der geförderten Aktivitäten massiv reduziert werden: „Wenn ihr ,Fair Payʻ wollt, werden viele Aktivitäten gar keine Unterstützung mehr erhalten.“ Damit wird die Forderung nach Fair Pay im Keim erstickt und in eine Drohung verwandelt – vor allem für jene, die noch nicht etabliert sind.
Zur Zeit sind nur sehr wenige internationale Beispiele auffindbar, die Auskunft über Fehlbeträge geben können, obwohl man sie relativ einfach auf Basis der aktuellen Fördereinreichungen errechnen könnte. Was würde es kosten, um Mindeststandards zu erfüllen? Wie hoch muss das Kunstbudget sein, um bei gleichbleibender Projektvielfalt Fair-Pay-Ansprüchen gerecht zu werden? Und was bräuchte man, um Anstellungen zu ermöglichen?
Eine derartige Bedarfserhebung schafft eine Faktenbasis. Und diese müsste im nächsten Schritt auch die längerfristigen Sozialkosten berücksichtigen. Es würde die politische Argumentationsgrundlage stärken und Anknüpfungspunkte bieten im Sozial- und Arbeitsbereich anzudocken, wenn man Kultur als Arbeit ernst nimmt.

 

8. Es geht nicht nur um die Frage, wie Fördertöpfe ausgestattet sind, sondern auch um die Ausgestaltung der Förderinstrumente.
Projektförderungen lösen immer mehr die Strukturförderungen im Kulturbereich ab. Output-Orientierung ist längst zum wichtigsten Bewertungsparameter geworden: wie viele Veranstaltungen, Film-Screenings, Teilnehmer*innen, Besucher*innen, bezahlte Tickets, wie viel Medienecho etc. Kunst- und Kulturarbeiter*innen werden dadurch immer mehr zu Projektmanager*innen, die möglichst effizient darstellen sollen, welchen Output sie generieren. Langfristige Investitionen in Strukturen werden damit ins Abseits gedrängt. Der Aufbau von Räumen, von Vernetzungen und Kooperationen, von all jenen Aktivitäten, die sich eben nicht kurzfristig bewerten lassen, verlieren so an Bedeutung.
Der Appell, Kunst- und Kulturschaffende sollten sich dieser Output-Orientierung widersetzen, durchatmen und sich Zeit nehmen, ist leicht gesagt. Ohne soziale Absicherung geht er aber ins Leere, zumindest dann, wenn ein mittelfristiges Auskommen geplant werden soll, von langfristiger Planbarkeit kann ohnehin keine Rede sein.
Es ist ein langer Atem erforderlich, wenn Exzellenz und Vielfalt im Kulturschaffen angestrebt werden. Es braucht einen Nährboden, auf dem vieles gedeihen und sich entwickeln kann, der Spielräume für Experimentelles ermöglicht, für kurzfristige Kleinprojekte ebenso wie für Strukturförderungen und Mehrjahresverträge. Ohne diesen fruchtbaren Humus, ohne ein stabiles Fundament, werden keine Leuchttürme entstehen und auch keine Vielfalt.


9. Wenn wir nicht mehr Geld in die Hand nehmen in jenen Bereichen, in denen die öffentliche Hand Verantwortung und Steuerinstrumentarien hat, dann ist der Wunsch nach Fair Pay im Kulturbereich tatsächlich eine Utopie. Es wird nicht funktionieren.
Es braucht somit einen Paradigmenwechsel. Das wird nicht von heute auf morgen passieren, sondern braucht Zeit und strukturierte Prozesse. Ein Ansatz ist ein gemeinsam mit der Szene und deren Interessensvertretungen erarbeiteter Kulturentwicklungsplan, der – jenseits deklaratorischer Bekenntnisse wie sie viele Regierungsprogramme enthalten – Vorhaben konkret zu machen ermöglicht sowie einen regelmäßigen Austausch und eine regelmäßige Evaluierung sicherstellt. Mittels eines Kulturentwicklungsplans können spartenspezifisch Erwartungshaltungen und mögliche Zielsetzungen verhandelt und nachvollziehbar gemacht werden. Gerade, wenn die Ressourcen knapp sind, ist ein gemeinsames strategisches Vorgehen notwendig.


Sind diese Punkte nun eine Utopie oder liegen sie im Bereich des Möglichen?

Ja, sie sind möglich, wenn sich Kulturschaffende selbst als Arbeiter*innen begreifen und die Arbeitsbedingungen nicht unhinterfragt hinnehmen, sich noch stärker kollektiv organisieren und Mindeststandards verlangen, diese von der Politik in ihrer Förderpraxis anerkannt werden und sich im Budget niederschlagen.

Diese hier beleuchtete Problematik ist in der kürzlich veröffentlichten Studie des Arts Council England zur sozialen Situation der Künstler*innen in England sehr treffend zusammengefasst: „Dass immer mehr [Kunst und Kultur] mit immer weniger realisiert wird, ist eine trügerische Erfolgsgeschichte, denn sie hat einen unsichtbaren Preis. Dieser Preis wird von jenen bezahlt, die im freien Sektor arbeiten und versuchen, davon zu leben.“

Yvonne Gimpel ist Geschäftsführerin der IG Kultur Österreich und arbeitet seit zwölf Jahren im kulturpolitischen Feld.